Immer wieder suchen Kunden Hilfe bei mir, weil das Zusammenleben mit Ihrem „ehemaligen“ Strassenhund aus dem Ruder läuft. Die Ursachen der Probleme sind dann fast immer auf die Eingewöhnungszeit zurückzuführen.
Leider kennen wir in den meisten Fällen die Vergangenheit des Hundes nicht. Wir wissen nicht ob er schon früh von der Mutter entrissen wurde, und ihm so die Sozialisierung durch die Mutter fehlt. Vielleicht wurde er auch ausgesetzt oder ist entlaufen, dann besteht die Möglichkeit dass er Menschen und Zivilisation gewohnt ist und er keine Angst vor Menschen hat. Es gibt aber auch Hunde die ihr ganzes bisheriges Leben auf der Strasse verbracht haben und extrem scheu und dem Menschen nicht zugänglich sind. Und dann gibt es noch diejenigen die grosse Angst vor Menschen haben weil sie geschlagen und misshandelt wurden.
Beim Versuch, Strassenhunde in unserer Heimat zu integrieren, kann es zu großen Problemen kommen. Sie zeigen überaus große Ängstlichkeit im Straßenverkehr, oft auch im Haus. Hier muss man sich bewusst machen, dass diese Hunde noch nie ein Haus von innen gesehen haben, sie kennen keine glatten Böden, keine Treppen, keine Möbel, TV, Staubsauger und Küchengeräte. Springende Kinder, laute Geräusche, Leine, Halsband – das alles ist ihnen suspekt und macht Angst.
Ein weiterer Aspekt, warum es zu Problemen kommen kann ist, dass die Rassen, die in einem Strassenhund stecken, nicht erkannt werden und sich der Mensch darüber auch keine Gedanken macht. Nehmen wir z.B. einen Hund aus Rumänien auf, müssen wir damit rechnen dass ein Grossteil seiner Gene vom Herdenschutzhund stammt. Hunde aus Spanien haben sehr oft einen grossen Jagdtrieb. Diese genbedingten Verhaltensweisen sollten auch in unsere Erziehung der Hunde unbedingt einfliessen und der zukünftige Hundehalter muss sich mit den Eigenschaften dieser Rassen beschäftigen.
Jeder Strassenhund, egal wie alt er ist, hat also sein „Rucksack“ dabei. Der Entscheid des Menschen, welchen Strassenhund man aufnimmt, wird auf Grund eines Fotos im Internet und den Erzählungen der Tierschutzorganisationen getroffen. Und hier möchte ich unbedingt darauf hinweisen dass es viel geschickter ist, einen Hund auszusuchen der bereits in einem Tierheim ist in der Gegend wo auch die Möglichkeit besteht, ihn kennenzulernen und mit ihm Zeit zu verbringen. Oft haben die Tierheimmitarbeiter den Hund schon kennengelernt und können erste Einschätzungen abgegeben über den Charakter und weitere Eigenschaften.
Strassenhunde können auch durchaus sehr selbstständig und eigenständig sein. Sie brauchen uns Menschen nicht unbedingt. Abfalleimer werden durchstöbert und alles Fressbare ist nicht sicher, denn nur so konnte der Hund seine Existenz bisher sichern. Viele Verhaltensweisen werden sich zunächst nicht ändern, wenn diese Hunde zu uns in die Familie kommen. Das bedeutet aber auch, dass sie nur bedingt als Familienhunde geeignet sind.
Der grösste Fehler bei der Aufnahme eines Strassenhundes ist jedoch, ihn aus Mitleid aufzunehmen. Mitleid ist eine menschliche Regung die es unter Hunden nicht gibt. Durch Mitleid bekommen die Strassenhunde viele Privilegien vom Menschen (Futter steht immer zur Verfügung, Mensch geht auf alles ein was der Hund gerade will etc). Hunde leben in einem Familienverband, in welchem nun Du als Mensch den Hund sicher durch seine neue Welt führen sollst. Das bedeutet, dass Du Entscheidungen treffen solltest, um dem Hund ein stressfreies und entspanntes Leben zu ermöglichen. Ein liebevoller, aber konsequenter Umgang mit dem Hund ist hier wichtig. Keiner weiss, wie sich das neue Familienmitglied entwickeln wird. Die Eingewöhnungszeit eines Strassenhundes dauert 4-6 Wochen. Alles was er in dieser Zeit lernt, wird sein Verhalten prägen. Im ungünstigsten Fall greift er statt nach dem dargebotenen Finger nach der ganzen Hand. Man hätte dann Privilegien verteilt, die sich nun nur schwer wieder entziehen lassen und mit viel Arbeit und negativen Emotionen verbunden sind (das gilt auch für unsere „normalen“ Haushunde).
Das Eingewöhnen wird für einen Hund viel leichter, wenn von Anfang an klare Strukturen und Regeln existieren, wenn Grenzen gesetzt werden, und wenn für den Hund in den richtigen Momenten liebevolle Konsequenz und Ignoranz von Seiten des Menschen ersichtlich sind. Es gilt, eben nicht den Fehler zu machen und dem Hund alles zuzugestehen, nur weil er es doch vorher so „schlecht“ hatte. Denn gerade unsichere Hunde fühlen sich schnell überfordert, wenn sie viele Entscheidungen treffen sollen, und damit aus ihrer Sicht scheinbar für den Menschen verantwortlich sind. Somit wird der Hund dankbar sein, wenn ihm nicht, vielleicht auch unbewusst, zu viel Verantwortung und damit Stress übertragen wird, denn er wünscht sich von seinem zweibeinigen Partner Führung und hat damit die Möglichkeit der besseren Orientierung.
Körpersprache des Menschen
Unsere Körpersprache ist im Umgang mit Hunden sehr wichtig. Straßenhunde sind viel feiner in der Kommunikation als unsere Haushunde im Allgemeinen. Da sie oft nur mit Artgenossen aufgewachsen sind, genügt ein kleiner Blick, um dem anderen deutlich zu machen, dass er gerade unerwünscht ist. Wir Menschen machen uns über unsere Körpersprache aber wenig Gedanken weil wir es gewohnt sind, uns verbal zu äussern.
Wenn wir zum Beispiel vornübergebeugt, frontal und fixierend auf den Hund zugehen und ihn locken wollen, kann der Hund das als Drohung sehen. Aggressives Verhalten ist also sein Mittel um auf die Drohung zu reagieren. Hat er keine Möglichkeit auszuweichen, wenn er z.B. in einer Hundebox ist und wir davorstehen, können Menschen auch attackiert werden.
In den ersten Wochen sollte der Hund Vertrauen zu seinen Menschen aufbauen dürfen. Der Mensch sollte sich defensiv verhalten und auf seine Körpersprache achten. Gassirunden sollten gar nicht stattfinden. Der Hund muss sich erstmal im Haus und im Garten zurechtfinden und Vertrauen aufbauen. Man sollte den Hund Schritt für Schritt an verschiedene Reize heranführen und verschiedene Alltagssituationen mit ihm üben. Dabei ist schier endlose Geduld gefragt, denn man darf sich keinesfalls durch scheinbar immerwährende Rückschritte beeindrucken lassen. Oft wird geraten, dass man mit den Hunden so schnell wie möglich in eine Hundeschule gehen sollte. Auch das ist nicht sinnvoll, weil der Hund total überfordert wäre. Das wichtigste überhaupt ist Vertrauen im Haus aufzubauen!
Schwierigkeiten am Anfang
Gerade am Anfang können Schwierigkeiten auftreten mit denen der Mensch nicht gerechnet hat. Was mache ich wenn der Hund ankommt und nicht über die Türschwelle in das Haus geht? Was wenn ich im 1. OG wohne und der Hund die Treppe nicht geht um Pippi zu machen? Was wenn der Hund sich im Badezimmer verkriecht?
Der Mensch sollte darauf vorbereitet sein das der Hund in die Wohnung machen wird, da er nicht stubenrein ist. Und für den Menschen sollte dies auch kein Problem sein. Auch wenn es halt einige Wochen dauert. Wichtig ist es, den Hund nicht zu überfordern und ihn erstmal ankommen zu lassen. Bei der Ankunft des Hundes sollte schon alles vorbereitet sein. Eine ruhige Ecke im Wohnbereich, ausgestattet mit einer Box und einem Hundebett und ein Wassernapf. Dort sollte eine Ruhezone für den Hund sein, von wo aus er alles beobachten kann. Sollten Kinder im Haushalt leben, sollten auch sie unbedingt respektieren das der Hund in dieser Zone IMMER in Ruhe gelassen wird (auch in Zukunft).
Sollte der Hund nicht in die Box gehen und verkriecht sich zum Beispiel im Badezimmer. Lasse ihn dort und bedränge ihn nicht. Versuch auch nicht ihn herauszulocken. Sollte das mehrere Tage dauern, mach sein Pippi weg und stell ihm Futter und Wasser ins Badezimmer. Du kannst Dich auch, mit dem Rücken zu ihm, in einem Abstand hinsetzen und einfach da sein, ohne etwas zu wollen. Es wird der Tag kommen, an dem der Hund sich von selber raus traut – und genau das ist so wichtig. Er selber ist bereit, den nächsten Schritt zu gehen!
Oft muss man auch anfangs Kompromisse schließen, wenn man z.B. in einem Mehrfamilienhaus wohnt und der Hund nicht fähig ist, Treppenstufen zu laufen, weil er das noch nie musste und daher nie gelernt hat. In diesem Fall sollte der Hund die ersten Wochen seine Notdurft auf Zeitungspapier in der Wohnung verrichten dürfen. In vielen kleinen Schritten wird er lernen, die Treppe zu bewältigen und seine Geschäfte draussen zu erledigen. Es sollte aber so sein, dass der Hund das Tempo bestimmt, und nicht der Mensch. Das gibt Vertrauen zum Menschen und auch Selbstvertrauen, selber etwas bewältigt zu haben.
Auch wenn wir das neue Familienmitglied am liebsten allen Verwandten und Bekannten zeigen wollen! Warte damit und baue erst mal selber Vertrauen auf. Und wenn es dann irgendwann so weit ist, beachte bitte, dass die fremden Menschen den Hund nicht überfallen und streicheln. Für viele Strassenhunde ist streicheln keine Belohnung, sondern eher eine Bestrafung. Sie sind es nicht gewohnt angefasst zu werden oder von einer Hand etwas Gutes zu erfahren. Sei also sparsam damit und streichle dem Hund nicht über den Kopf! Beug dich nicht über ihn sondern setz dich im Besten fall neben ihn und kraule z.B. seine Brust.
Gassi gehen
In den ersten Wochen brauchst Du keine Spaziergänge machen. Geh mit dem Hund in den Garten (falls du einen hast) oder vors Haus. Steh mit ihm da und schau dir mit ihm zusammen die Gegend an. Lass ihn dort schnüffeln und geh dann wieder ins Haus. Der Hund muss schon sehr viele Eindrücke im Haus verarbeiten und dafür braucht er Zeit, Ruhe und Schlaf. Durch Überforderung und der Ungeduld des Menschen fördert man Stress, was sich in irgendeiner Art und Weise auswirken wird. Lass ihn auch anfangs nicht alleine in den Garten und mach eine Schleppleine dran. Oft wollen Strassenhunde nur flüchten und da ist auch ein Zaun kein Hindernis.
Probleme in der Erziehung
Die Probleme in der Erziehung, die sich durch die große Selbstständigkeit, durch Angst- oder Aggressionsverhalten der Straßenhunde ergeben, werden oft unterschätzt. Die Familie möchte ihren Hund „umsorgen“, dem Hund bestimmte Kommandos beibringen wie „Sitz“ „Platz“ und „Hier“. Das alles hat aber noch Zeit. Bindungsarbeit ist viel viel wichtiger.
Der Hund kann durch schlechte Erfahrungen und schlechte Prägung traumatisiert sein. Manche Hunde lassen sich nicht anfassen, hier ist nicht mal ein Minimum an Grundversorgung möglich, wie Pfoten säubern, Fellpflege, Medikamente verabreichen oder Leine und Halsband/Brustgeschirr anlegen. Vielleicht kann man den Hund anfangs auch nicht im Auto mitnehmen. Manche Familienmitglieder werden nicht akzeptiert, da sie mit schlechten Erfahrungen in Verbindung gebracht werden, oder es kann eine Traumatisierung durch Reizüberflutung stattfinden. Die ständige Begrenzung durch die Leine kann eine gravierende Einschränkung für Mensch und Hund bedeuten. Der Straßenhund ist in der Regel in einem Rudel aufgewachsen und war nie einsam. Soll er nun, bedingt durch die Berufstätigkeit des Menschen, alleine bleiben müssen, kann sich Trennungsangst entwickeln. Dies kann eine komplette Lebensumstellung des Hundebesitzers erfordern, da Trennungsangst schwer therapierbar ist.
All diese Probleme müssen natürlich nicht entstehen, aber sie können. Und darüber sollte sich jeder klar werden, wenn er einen Strassenhund aufnimmt. Was passiert wenn der Hund nicht so funktioniert wie wir uns das vorgestellt haben? Ist der Mensch bereit, auch wenn es schwierig wird, sich Hilfe zu holen und an den Problemen zu arbeiten? Oder schiebt man den Hund dann einfach ab in ein Tierheim und er wird womöglich zum Wanderpokal? Dann ist hier die Frage ob es der Hund nicht besser gehabt hätte, wenn er weiter als Strassenhund gelebt hätte.
Abschließend möchte ich festhalten, dass Hunde aus dem Tierschutz natürlich nicht immer nur problematische Hunde sind. Der Vorteil bei der Aufnahme eines Hundes aus dem Tierschutz, welcher in der Regel ja ein erwachsener Hund ist, besteht darin, dass man genau testen kann, welche Eigenschaften und Charakterzüge beim Hund vorhanden sind. So kann ein guter Hundetrainer genau einschätzen, ob der ausgewählte Hund gut in die Familie und deren Interessen und Bedürfnisse passen wird oder nicht.
Mittelmeerkrankheiten
Bei seriösen Tiervermittlungen sind die Hunde aus dem Süden bereits auf die sogenannten Mittelmeerkrankheiten(u.a. Borreliose, Babesiose/Piroplasmose/Hunde-Malaria, Ehrlichiose, Leishmaniose, Hepatozoonose/Hepatitis, Dirofilariose/ Herzwurm) getestet. Zuverlässig Auskunft über die Freiheit bzgl. dieser Krankheiten gibt allerdings nur ein 2. Bluttest nach ein paar Monaten. Hierzu sollte rechtzeitig ein Tierarzt konsultiert werden. Die zum Teil unheilbaren und tödlichen Erkrankungen, unter denen Straßenhunde oft aufgrund mangelnder Versorgungsmöglichkeiten bzw. Vorsorge leiden, sollten jedem, der sich mit dem Gedanken trägt, einen Straßenhund aufzunehmen, bekannt sein. Man muss sich bewusst sein, dass ein daran erkrankter Hund immense Tierarztkosten verursacht oder – im Extremfall und je nach Grad der Erkrankung – nur durch Einschläfern von seinem Leid erlöst werden kann. Zudem können ansteckende Krankheiten, die normalerweise nicht in unseren Breitengraden vorkommen, eingeschleppt werden und sich somit auch bei uns verbreiten.
Regeln für den Umgang mit Straßenhunden
Sollte ein Strassenhund unser Herz erobert haben, müssen wir Folgendes beachten:
1. Die Körpersprache und Kommunikation des Hundes gut beobachten und verstehen lernen und sich entsprechend verhalten
– Sich nicht über den Hund beugen, um ihn zu streicheln oder ihn anzuleinen
– Nicht von oben auf den Kopf tätscheln (jede Bewegung von oben nach unten kann der Hund als Bedrohung auffassen)
– Nicht bedrängen, sondern eher Ausweichmöglichkeiten bieten
– Keine schnellen Schritte auf den Hund frontal zugehen, sondern langsam und eventuell seitlich in die Hocke gehen
– Blickkontakt (direkter Blickkontakt kann aus Hundesicht fixierend und damit Drohverhalten bedeuten) vermeiden und dem Hund damit die Möglichkeit der Kontaktaufnahme geben.
2. Das Alleine-bleiben-Können, stubenrein zu sein, das Halsband und die Leine zu tragen, sich kämmen zu lassen, Pfoten säubern oder sich an die Mitfahrt im Auto zu gewöhnen, muss man trainieren, egal ob Welpe oder erwachsener Hund.
3. Der Streuner muss langsam an entsprechende Reize gewöhnt werden, grenzenlose Geduld ist gefragt. Evtl. muss die Lebensweise des Menschen radikal verändert werden, um dem Hund eine Anpassung zu erleichtern.
4. Den Hund nicht mit fremden Personen alleine lassen. Ihn langsam und positiv an eine Hundebox zu gewöhnen ist sinnvoll, bietet sie doch Rückzugsort, Sicherheit und Höhlencharakter in einem.
5. Den Hund draußen mit Halsband/Brustgeschirr, eventuell sogar mit einem Sicherheitsgeschirr mit zusätzlichem Bauchriemen, und Leine sichern, um ein Entlaufen oder Unfällen vorzubeugen.
6. Damit nicht Erfolgserlebnisse zu neuen Problemen führen, bitte verhindern, dass Mülleimer durchwühlt oder Essensreste vom Tisch gestohlen werden. Hier muss der Mensch vorausschauend handeln und alles wegräumen bzw. verschließen.
7. Jagderfolge des Hundes müssen verhindert werden. Hier kann ein existenzielles Training, bei welchem der Hund sich sein Futter erarbeiten muss, gestartet werden. Nach dem Aufbau eines entsprechenden Schleppleinen- und Anti-Jagdtrainings kann dem Hund in entsprechenden Gegenden eventuell ein Freilauf gewährt werden.
Und abschliessend nochmals das Wichtigste: Gib Deinem Hund Zeit und habe viel Geduld – er wird es Dir danken. Ist das Vertrauen im Haus aufgebaut kann der Hund Dir auch draussen vertrauen.
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